Andrea Behnke: Die Welt steht still. Kindergeschichten von Abschied, Tod und Trauer

Alle Eltern wollen ihre Kinder gerne vor schlimmen Erfahrungen schützen und halten sie daher vor manchen Dingen fern. Doch manchmal geht das nicht. Abschied, Verlust, Tod kommen ungebeten ins Leben, die damit verbundene Trauer muss bewältigt werden. Früher wurde oft einfach alles totgeschwiegen, heute weiß man, dass die Kinder das Geschehene besser verarbeiten, wenn sie Fragen stellen dürfen und über ihre Gefühle sprechen können. Doch wie stellt man das an?

Inhalt:

Andrea Behnke hat zehn Kindergeschichten geschrieben, die sich mit diesem Themenkomplex befassen. Die ersten fünf Geschichten behandeln das Thema Abschied: Eine Großmutter wird dement, was einen Abschied von dem Menschen bedeutet, den man bisher gekannt hat. Dies dürfte etwas sein, womit jetzt und in Zukunft viele Kinder konfrontiert werden. Ein Mädchen verliert das einzige Erinnerungsstück an den verstorbenen Großvater, ein Junge erfährt, dass er eine chronische Krankheit hat, die sein Leben verändern wird. Die Eltern eines Jungen trennen sich, weshalb er am liebsten doppelt sein würde, um gleichzeitig bei beiden Elternteilen sein zu können.

Plötzlich zittert Luca. Am ganzen Körper zittert er. Er ist nicht doppelt, er ist geteilt, und das tut so weh, dass er nur noch weinen kann.

Ein anderes Kind ist auf der Flucht und muss mit dem Verlust der heimatlichen Wohnung, der Spielsachen, des Vaters und aller Freunde ebenso fertigwerden wie mit der vollkommen fremden Umgebung im Flüchtlingslager.

Weißt du, wo du zu Hause bist?

Ich weiß nicht, wo ich zu Hause bin. Mein Zuhause ist einfach weg. Der Krieg hat mein Zuhause mitgenommen. Es ist nicht mehr da, mein Zuhause. Frag mich nicht warum, ich kann es dir nicht sagen.

Die nächsten fünf Geschichten behandeln das Thema Tod. Ein Mädchen findet den heiß geliebten Kanarienvogel tot im Käfig, ein anderes empfindet den ausgesuchten Sarg als völlig unpassend für die immer fröhliche, unkonventionelle Oma.

Nein. So ein Bett passt nicht zu Oma. Oma war nicht so aus Holz. Sie war bunt.

Ein Junge möchte Sonnenblumen pflanzen, die hoch werden wie Wolkenkratzer, damit sein verstorbener Onkel sie von oben erkennen kann. Ein Text handelt von den Gefühlen eines Kindes bei einer Beerdigung und in einem bleibt ein Platz in der Klasse frei: Ein Schüler ist an einer Krankheit gestorben, sein Freund gibt sich die Schuld, weil sie sich gestritten hatten.

Zu jeder Geschichte gibt es Gesprächsimpulse, Fragen und Anregungen, sich dem Thema noch auf eine andere Weise zu nähern: in Rollenspielen, durch Malen, Basteln oder Schreiben. So kann ein Abschiedsbrief helfen, wenn noch etwas ungeklärt geblieben ist, wie beim Streit der Schüler. Wenn das Reden schwerfällt, bieten künstlerische Ausdrucksformen eine Möglichkeit, die Gefühle herauszulassen. So werden beispielsweise Musikinstrumente gebastelt und musiziert oder ein Rollenspiel vermittelt, wie sich ein Kind fühlt, das alles zurücklassen musste.

Meine Meinung:

Die Geschichten sind nur kurz, nicht mehr als zwei Seiten lang. Aber sie schaffen es, das jeweilige Thema so umfassend darzustellen, dass die Kinder es nicht nur verstehen, sondern auch nachempfinden können. Die wohl gewählten Worte bringen die Gefühle im jeweiligen Moment auf den Punkt. Auch mir sind die Geschichten nahegegangen, vor allem „Der leere Platz“, in der die Schüler erfahren, dass ihr Klassenkamerad nie wieder neben ihnen sitzen wird. Das Spektrum ist weit, weshalb viele Situationen der Trauer, die ein Kind erleben kann, aufgegriffen werden. Die Trennung der Eltern, selbst erlebt oder bei Freunden. Der Tod des geliebten Haustiers – hier neigen Erwachsene dazu zu sagen, dass es ja „nur“ ein Tier war, aber für das Kind war es meist ein enger Freund, dem es alles anvertrauen konnte. Sehr wichtig finde ich auch den Text über die Beerdigung, weil das eine Situation ist, in der die Erwachsenen oft weder Zeit noch Kraft haben, dem Kind seine vielen Fragen zu beantworten.

Wenn das Erlebte sprachlos macht, können Geschichten helfen, über das Erleben Fremder Zugang zu den eigenen Gefühlen zu finden. Die Geschichten sind kurz genug, dass Fragen und Gedanken, die beim Hören aufkommen, nicht wieder vergessen gehen. Die Fragen zum Textverständnis und die Redeanlässe können helfen, betroffene Kinder zum Reden zu bringen oder dazu zu erkennen, dass sie mit ihrer Trauer nicht alleine sind. Vielleicht wagen sie es nun, die Fragen zu stellen, die in der letzten Zeit aus verschiedensten Gründen ungefragt blieben. Und wer einfach noch nicht so weit ist zu reden, kann seine Gefühle vielleicht beim Malen, Basteln, Schreiben, Theaterspielen oder Musizieren herauslassen.

Das Buch richtet sich aber nicht nur an direkt betroffene Kinder, sondern kann auch helfen, die Themen in der Gruppe anzusprechen. Sei es beispielsweise, weil eines der Kinder trauert, weil ein Elternteil gestorben ist und die anderen Fragen stellen, weil eine Asylunterkunft aufgemacht wurde und die Kinder nicht verstehen, wo diese Flüchtlinge herkommen und wieso man seine Heimat verlässt oder einfach nur, weil das Thema „dran“ ist. Durch die vielfältigen Zugänge kann sicher jedes Kind erreicht werden.

Wie Andrea Behnke im Vorwort schreibt, können auch ihre Geschichten keine allgemeingültigen Antworten geben, schließlich sei Trauer etwas höchst Individuelles, aber sie können zum Nachdenken und Weiterreden anregen. Das finde ich in solch schwierigen Lebenssituationen besonders wichtig: mit dem Kind im Gespräch zu bleiben. Nichts totschweigen, sondern es zu begleiten und zu hören, wie es ihm geht. Ich bin sehr froh, dass dieses Buch die Möglichkeit gibt, in die vielleicht gerade verschlossenen Herzen der Kinder vorzudringen.

Das Buch richtet sich vor allem an Schulen und Kitas, in denen Lehrerinnen oder Erzieher trauernden Kindern zwischen 5 und 9 Jahren beistehen wollen. Es ermöglicht es aber auch, dass in den Einrichtungen ohne konkreten Anlass über eines der Themen gesprochen wird. Ich denke, dass auch Eltern oder andere Verwandte, die in einer konkreten Trauersituation nach Hilfe für ein Kind suchen, hier ein gutes Mittel finden.

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Andrea Behnke: Die Welt steht still. Kindergeschichten von Abschied, Tod und Trauer. Herder 2014. 80 Seiten, Euro 14,99, ISBN 978-3-451-32693-6.

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Ich danke dem Herder-Verlag für das Rezensionsexemplar.