Tobias Rafael Junge, Nils Andersen: Deadwater. Das Logbuch

Disziplinarmaßnahme für Jugendliche

Als Chris in der Villa seiner Eltern während deren Dienstreise eine ausufernde Party feiert und erwischt wird, reißt deren Geduldsfaden. Sie schicken ihn auf eine sechsmonatige Segeltour, auf der er mit anderen schwierigen Jugendlichen zur Vernunft gebracht werden soll. Start ist in Indien und das Segelschiff entpuppt sich als bei Weitem nicht so luxuriös, wie es in den Prospekten geschildert war. Das Leben an Bord ist hart: In 8-Stunden-Schichten haben die Schüler entweder Dienst, Unterricht oder Freizeit, wobei letztere fast vollständig fürs Schlafen draufgeht.

„Chris, Achtung!“ Herr Detering klang ruhig, aber trotzdem zuckte ich zusammen. Instinktiv hielt ich mich an einer der Sicherheitsleinen fest.
Gerade noch rechtzeitig. Die Marie tauchte mit dem Bug unter und eine Wellte riss mich von den Beinen. Kurz baumelten meine Beine im Leeren und ich rutschte zur Seite weg. Ich konnte mich nicht mehr am Seil halten und schlitterte über das Deck, auf das tosende Wasser zu.

Langsam raufen sich Jugendliche und Lehrer zusammen, als plötzlich der Schulleiter von Bord verschwindet. Einen Tag später ist die ganze Besatzung weg. Sie sind auf sich gestellt. Doch dann erreichen Botschaften das Schiff: Wenn sie ihre Lehrer retten wollen, müssen sie einige höchst merkwürdige und moralisch zweifelhafte Aufgaben erfüllen. Nicht nur ihr Leben hängt von ihrem Handeln ab.

Spannendes Logbuch

Die Ereignisse an Bord der Marie werden in Form eines Logbuchs geschildert. Verschiedene Jugendliche nehmen die Einträge vor, sodass die Leser die Ereignisse aus verschiedenen Blickwinkeln kennenlernen. Die anderen Jugendlichen setzen sogenannte Klugscheißer-Kommentare an den Rand und Chris verzeirt alles mit Bildchen, was den Blick erweitert und häufig lustig ist. Was anfangs wie ein Strafausflug wirkt, der aber doch ganz nett zu werden verspricht, entwickelt sich schnell zu seinem Albtraum. Was vermeintlich sicher schien, wird häufig kurz darauf über den Haufen geworfen. Nie ist klar, wem man trauen kann, weil die Jugendlichen den Eindruck gewinnen, dass ein Verräter an Bord ist. Einen merkwürdigen Eindruck machen einige, zumal klar ist, dass sich alle vorher nicht so verhalten haben, wie ihre Eltern sich das gewünscht hätten.

Nahrungsmittelknappheit, Wassermangel, harte Arbeit, Sorge um die Lehrer und ihre Lieben daheim und grausame Aufgaben, die ihre Moralvorstellungen auf die Probe stellen, bringen die Jugendlichen nicht nur an den Rand der Erschöpfung, immer wieder drohen einzelne auszubrechen. Doch damit würden sie die ganze Mission gefährden. Ihre Reise bringt die Jugendlichen dazu, nicht nur ihr ganzes bisheriges Leben zu überdenken, sondern auch unsere Konsumgesellschaft.

Die sehr verschiedenen Charaktere der meisten Jugendlichen werden gut herausgearbeitet. Am Besten lernen die Leser Chris kennen, der ein sympathischer, sehr intelligenter Chaot ist. Er braucht nichts für die Schule tun, ist künstlerisch sehr begabt und hat reiche Eltern – im Prinzip führt er ein Bilderbuchleben. Die anderen Jugendlichen haben sehr verschiedene Talente, die wunderbar zusammen passen und die für das meistern der Lage nötig sind: kochen, navigieren, Technik … Einige bleiben allerdings eher Randfiguren. Es ist gut zu beobachten, wie sie sich im Laufe der Reise verändern. Einige wachsen angesichts der Verantwortung, andere werden noch rebellischer, als sie es vorher waren, und alle merken, dass ihre alten Werte und Wünsche ziemlich oberflächlich waren. Das ursprüngliche Ziel der Reise ist damit an sich erreicht worden, auch wenn die Eltern sich das ganz anders vorgestellt hatten.

Das von verschiedenen Personen geschriebene Logbuch lässt sich sehr locker lesen, die Randbemerkungen und -zeichnungen sind oft lustig trotz der ganzen Dramatik drumherum. Dazu kommen coole Zeichnungen von Karten, den Beteiligten, dem Schiff usw. Zwei Anhänge, die ich leider erst am Schluss entdeckt habe, stellen die Protagonisten vor und erklären  allerlei rund um die Reise, vor allem Segelvokabular und geografische Angaben. Sie stammen ebenfalls aus der Hand der Schüler, sind daher lustig geschrieben und ebenfalls mit Anmerkungen und Zeichnungen versehen. Ich denke, am Anfang des Buches wären sie besser aufgehoben gewesen.

Ich muss zugeben, dass ich überrascht war, wie sich die Handlung entwickelte. Ich hatte nicht erwartet, dass sich aus der abenteuerlichen Fahrt eine so düstere Geschichte herausbildet, die geschickt Kritik an Umweltverschmutzung, der Ausbeutung von Arbeitern, Globalisierung und Profitgier übt, ohne dass es irgendwie aufgesetzt wirkt. Das Buch war sehr spannend, gut zu lesen und ließ mich doch sehr nachdenklich zurück. Aus meiner Sicht ein Volltreffer! Allerdings ist es doch stellenweise recht grausam, laut Verlag ist es für Leser ab 12, dann sollten diese aber nicht allzu zart besaitet sein. Ab 14 sollten aber alle damit klarkommen.

Das Buch wurde auf der diesjährigen Leipziger Buchmesse mit dem Leipziger Lesekompass 2017 ausgezeichnet. Aus der Jurybegründung „Genremix, irgendwo zwischen ‚Herr der Fliegen‘ und Ökokrimi. Auf jeden Fall hochspannend!“

Auf Rabenmaul gibt es ein Bonusmaterial (Selfie der Crew, Karte der Reiseroute).

Fazit: Eine Gruppe Jugendlicher ist die an Bord eines Schiffes auf sich gestellt und muss grausame Aufgaben erfüllen, um das Leben von Lehrern und Angehörigen zu retten: ein spannender, gut geschriebener und originell aufbereiteter Thriller mit einer ordentlichen Portion Gesellschaftskritik.

Tobias Rafael Junge, Nils Andersen: Deadwater. Das Logbuch. Dressler 2017. 224 Seiten, Euro 9,99, ISBN 978-3-7915-0049-2.

Zur Verlagsseite – bei Amazon – bei Buch7.de – im Onlineshop eurer Buchhandlung und in eurer bevorzugten Buchhandlung.

Ich danke dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

6 Kommentare zu “Tobias Rafael Junge, Nils Andersen: Deadwater. Das Logbuch

  1. Hey,
    vielen Dank für die schöne Besprechung! 🙂 Ich habe nur noch zwei Ergänzungen:
    1. Auf http://www.rabenmaul.de gibt es noch ein bisschen Bonusmaterial (Selfie der Crew, Karte der Reiseroute).
    2. Bei den Urteilen der Jury zum Leipziger Lesekompass ist auf der offiziellen Seite ein bisschen was durcheinander geraten. Zu Deadwater heißt es eigentlich: „Genremix, irgendwo zwischen ‚Herr der Fliegen‘ und Ökokrimi. Auf jeden Fall hochspannend!“ Das oben gennnate Urteil gilt „Digby“ von Stephanie Tromly. 😉

    Viele Grüße,
    Tobi

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